WALLISERSAGEN
Vorwort von Herrn Josef Guntern
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Die Sage entspringt dem menschlichen Bedürfnis, geistige Gehalte und Fragen zu versinnbildlichen, sie will an Beispielen die Wirklichkeit versinnbildlichen, sie will an Beispielen die Wirklichkeit darstellen. Rätselhafte Vorgänge werden auf einfache Weise erklärt und verstanden - so wie es das Volk auffasste und verstand. Das unbestechliche Gerechtigkeitsgefühl des Volkes nimmt Form an: Was gefehlt wurde an Gemeinschaft und Mitmenschen, muss schwer gesühnt werden, selbst nach dem Tode. Naturgewalten erscheinen uns, besonders in Nacht und Einsamkeit, wo die Angst tausend Augen hat. Und das Jenseits beschäftigte unsere Ahnen so stark, dass sich jeder über das Grab hinaus mit seinen Verstorbenen eng verbunden. Die Leiden und Freuden nach dem Tode schaute der Walliser eindrücklich in den häufigen Totenprozessionen und Wiedergängersagen.
Und so wurden Sagen auch zur Volksdichtung, und übertrafen oft in ihrer knappen, gemütvollen Bildhaftigkeit künstlich gefügter Dichtwerke.
Die knappe Sage will nicht unterhalten und gefallen, sie will klären, belehren und überzeugen. Im Lied, im Sprichwort, im Märchen, in der Legende klingt das Volkshafte jedes Menschen oft in vorgezeichneten Formen. Die Sage hingegen ist unmittelbarer.
Der Charakter des erzählenden Volkes, sein Wollen und Lassen, das Rechtsempfinden und die Religiosität werden deutlicher sichtbar. Jeder volkstümliche Bericht nähert uns so dem Erzähler und zeigt uns die geistige Welt, worin er lebt, mögen diese Welt nun Zauber, Phantasie, abgeklärte Vernunft, Religion - oder alle zusammen - beeinflussen und geprägt haben.
Der ernste Sagenerzähler stellt seine Berichte als einmalige, örtlich und zeitlich bestimmte Ereignisse hin - trotzdem sind Sagen internationales Wandergut, das wir in seinen Motiven oft Jahrhunderte zurückverfolgen. Jede echte Volkserzählung die Eigenart ihrer Gegend, trägt die Farbe ihrer Landschaft. Und so unterscheiden sich eben Walliser Sagen von jeder anderen Sammlung. Sie zeigen lebendiger als jeder Abhandlung, wie unsere Ahnen lebten, hofften und litten. Wie sie die Welt verstanden und darstellten.
Vorwort mit freundlichen Genehmigung von Herrn Josef Guntern
Mai 2017